Scheringen

Jugenderinnerungen

Otto Roth (Karlsruhe-Durlach) 

Herbst 1917 

Die Schulferien waren leider zu Ende, und ich war somit gezwungen, aus meinem geliebten Odenwalde, wo ich schon immer auf den Bauernhöfen, von deren einem meine Mutter stammte, meine Sommerferien hatte verbringen dürfen, also aus der satten Fülle des ländlichen Lebens heraus, in die hungrige Kargheit des Dritten Weltkriegsjahres hinein zurückzukehren. Der Bürgermeister von Scheringen hatte mir ein schwarzweißrotumrandetes urkundenähnliches Zertifikat mit auf den Heimweg gegeben, das mich als willkommenen Erntehelfer auszeichnen sollte.

Ganze zehn Lenze zählte ich damals! Was mich aber nicht daran hindern konnte, dass ich bereits mit allen in jenen Zeitläufen üblichen landwirtschaftlichen Arbeitsvorgängen aufs beste vertraut gewesen bin, gleichgültig, ob es sich um das Garenbinden, damals noch mit den geflochtenen Strohseilen, das Heumachen oder Heugabeln und Laden, Mähen mit oder ohne Reff, das Futterschneiden oder ob es sich ganz einfach nur um die im Stalle täglich anfallenden Arbeiten handelte. 

Wasserleitungen gab es eh noch kaum auf den Dörfern. Und zum Tränken, aber auch für den Bedarf in Haus und Küche musste man das benötigte Wasser mit einem hölzernen Joche auf den Schultern, an dessen Enden beidseits große, schwere Stalleimer baumelten, mittels des geschweiften Pumpenschwengels aus dem Gott sei Dank gerade bei meinem Onkel seit Olims Zeiten genau dem Stalle gegenüber unter einem riesigen Nussbaume stehenden Dorfbrunnen mit dem grob behauenen steinernen Troge aus der klaren kühlen Tiefe heraufholen. Das war des morgens und abends bei dem vielen Vieh eine ganz schön harte Arbeit. Ich aber machte ganz einfach das alles unbesehen mit und ward so von den eigenen Verwandten, dem im Kriege natürlich spärlichen Gesinde und den bäuerlichen Nachbarsleuten gleichermaßen als vollwertig und ebenbürtig angenommen, was für einen aus der Stadt ganz und gar nicht so einfach gewesen ist und auch heute noch nicht anders sein dürfte. Später, am Ende der Ferienzeit, zahlte sich das dann auch neben viel anerkennendem Lobe und aufrichtigem Danke noch anders aus. So standen in der Scheune auch einige prallgefüllte Säcke mit Ähren bereit für die Mühle nach dem Dreschen. Ähren, die ich eifrig auf den bereits abgeernteten Feldern gelesen hatte, aber zusätzlich, dank der Güte meines Onkels, erheblich mit dem Zusammengekommenen des meistens von mir gezogenen Schlepprechens aufgebessert worden waren. Hinzu kam noch vieles, was in jener notvollen Zeit für einen kleinen Städter ihm kaum noch vorstellbare Kostbarkeiten sein mussten. Das für mich Bedeutsamste und, wie sich später herausstellen sollte, auch Folgenreichste war aber, dass mir meine Gödel, also die liebe Patentante Therese, ganz klammheimlich in der guten Stube, der Nebenstube, aus einer Schatulle des Glasschrankes mit dem festlichen Porzellan für die selteneren Familienfeiern – sage und schreibe – einen Zwanzigmark schein zugesteckt hatte. Viel Geld damals für einen kleinen Buben von zehn Jahren! 

Aber beim letzten Futterschneiden am Abend in der dämmrigen Scheune fragte mich zu allemhin auch noch mein Onkel Valtin ganz plötzlich: „Sag mal, Bub, hast du vielleicht noch einen besonderen Wunsch?” Ja, doch Onkel”, sagte ich da verdutzt, „das habe ich! ” Der Onkel: „Und das wäre?” „Ein Stück Sohlenleder hätte ich gern, Onkel!” „Ein Stück Sohlenleder?” meinte er da gedehnt, zuerst einmal sichtlich verblüfft, fragte aber dann nicht mehr weiter. Möglicherweise hatte er schließlich auch gleich begriffen, zu was ich es haben wollte. So fand ich auch am nächsten Morgen, an meinem Abschiedsmorgen, in meinem Koffer ein Stück Sohlenleder, genau in der Größe, die der Kofferboden eben hatte. 

Beäugt hatte ich die große duftende Lederrolle in der dunklen Ecke des Bodens oben, der als Getreidespeicher diente, schon immer wieder. Nun ergab es sich aber auch all die Jahre mit schöner Regelmäßigkeit, dass in der Zeit der großen Ferien nicht nur ich bei den Verwandten zu Gast, sondern turnusmäßig auch der taube Schuster da war, um jedem Familienmitgliede, wie jährlich üblich, ein Paar derber Arbeitsschuhe und ein Paar feinerer Sonntagsschuhe zu machen. Allgemein hieß man im Dorfe den Schuhmacher nur den „Daab” (den „Tauben”), weil er halt von Geburt an nichts hören konnte. 

Regentage gab es damals auch schon in den hochsommerlichen Monaten Juli und August, und an solchen setzte ich mich schon als ganz kleiner Kerl, anstatt herumzufaulenzen, einfach zum Immer so gutmütig dreinschauenden Daab, um ihm beim Schuhemachen, so gut ich es eben konnte, zu helfen. Mit der Zeit schlug ich fein säuberlich am Rande der neuen Sohlen zwei- oder dreireihig die Löcher vor und dann die Holznägel hinein, nähte mit dem Pechdraht, Schweinsborsten an der Spitze, schabte die fertige Sohle mit dem Glasscherben ganz schön glatt, rändelte und polierte. Der Daab machte natürlich die Sachen mit dem Oberleder und den Schäften. Er verstand ohne weiteres alles was ich sagte, auch wenn ich ganz normal sprach, und ich verstand seine verständlicherweise eigenartige, mehr poltrig sich anhörende Sprechweise mühelos. Jedenfalls war er allemal mit meiner emsigen Mitarbeit zufrieden. Und weil dieses meinem Onkel im Nachhinein wohl eingegangen war, hatte er auch auf weitere Fragen verzichtet. 

Als Folge der miserablen Zeiten mit Krieg, Hunger und dem Mangel an fast allem war es bei uns zu Hause so, dass ich mit meiner Mutter das meiste Mitleid haben musste, ging sie doch, fromm wie sie war, jahraus, jahrein bei Wind und Wetter des morgens in die Kirche zur Messe. Im Herbst und Winter und wenn es sonst noch regnete natürlich mit nassen Füßen, weil sie für die Löcher ihre längst durchgelaufenen Schuhsohlen nichts anderes zur Verfügung hatte als Zeitungspapier, von den schiefen Absätzen schon gar nicht zu reden. Meine Schwester und ich — mein älterer Bruder war ja mit seinen siebzehneinhalb Jahren schon im Kriege an der Front und hatte Knobelbecher an — hatten für den Werktag Holzschuhe und des Sonntags, wenn es regnete, auch nasse Füße wie die Mutter. Bei dem lieben Vater war es auch nicht anders. Deswegen, als mir auf dem verstaubten Getreidespeicher die große Rolle mit dem für mich so wunderbaren herben Geruch nach Gerberlohe- und Säure vor die Augen gekommen war, hatte sich bei mir — eingedenk meiner, wenn auch noch spärlichen, beim Daab erworbenen Fähigkeiten – so ganz verschwommen ein visionäres Wunschdenken eingenistet: Wenn, ja wenn .. .! Und nun war ich ganz überraschend durch die unverhoffte Frage meines Onkels: „Sag mal, Bub, hast du vielleicht noch einen besonderen Wunsch?” schneller, als ich es je zu erwarten gewagt hätte, der Verwirklichung meiner bislang nur vagen Idee nähergekommen. 

Jetzt lag alles andere nur noch bei mir selber! 

*

Die Rückreise von meinem zwangsläufig mich und die noch anstehenden Arbeiten zu früh beendeten Ernteeinsatz war ohne besondere Vorkommnisse vonstatten gegangen. Das war seinerzeit keinesfalls so selbstverständlich, wie sich das vielleicht heute anhört. Jedenfalls hatte ich vor dieser Fahrt einen Riesenbammel: Nicht etwa, weil man es für besser befunden hatte, wenn ich unauffälliger allein reisen würde, sondern Bammel vor den leider üblichen und gefürchteten Zugkontrollen. Gott sei es heute noch gedankt, dass damals in meinem Zug keine gekommen ist und auch keine Filzer an der Sperre im Heimatbahnhof gestanden haben. Denn sonst hätten sie mir alles abgenommen: das Leder, die Eier, die Butter, die Wurst, das Dürrfleisch und all die anderen guten Sachen. 

Natürlich hat mein mit ungutem Bangen erwartetes, aber nunmehr vollkommen unbehindertes Eintreffen im Familienkreise große Freude ausgelöst, sogar bei meinem Vater, der ansonsten mit der Odenwälder Verwandtschaft nicht allzuviel im Sinne hatte. Bei seinen sowieso schon seltenen Besuchen ging er halt nicht wie ich gleich nach der Begrüßung erst einmal in den Stall. Er ging überhaupt nie in den Stall, weil ihn einmal auf dem Schulweg ein wahrscheinlich weniger bösartiger, als mehr gelangweilter Gaul am Schulranzen gepackt und kräftig durchgeschüttelt hatte. Das war für ihn sein ganzes Leben lang ein unverwindbarer Schock, der ihm dann dazu auch noch den gutmütigen Spott nicht nur den einen, sondern aller meiner bäuerlichen Onkels, die sowieso schon gerne uzten, eintrug: „Er ist halt ein unverbesserlicher Stadtfrack!” 

Als ich aber zu allem hin auch noch berichten musste, dass mir meine Gödel, die gute Tante Therese, für die geleistete Erntehilfe einen nagelneuen Zwanzigmarkschein zugesteckt hatte, waren Vater und Mutter doch bass erstaunt. Denn es soll doch immerhin nicht gerade wenige Leute gegeben haben, die ihr nachzusagen pflegten, sie sei ganz mächtig aufs Geld versessen. 

Schon an meinem zweiten Schultage traf dann ein Brief meines Onkels ein, der berichten musste, dass am Abend und in der folgenden Nacht nach meiner Abreise ein schweres Gewitter mit sintflutartigen Regengüssen niedergegangen sei und dass, wenn ich noch einen einzigen Tag hätte bleiben können, auch das Ohmed (Öhmd) vom Drei-Steg zu Hause gewesen wäre. So sei die allezeit schon emsige Elz über ihre Ufer getreten und habe in dem tief eingeschnittenen Tal alles weggeschwemmt. 

Da war auch bei meiner guten Mutter das ererbte Bauernblut durchgeschlagen und, mich mit liebevollem Stolz anblickend, ist sie mir über das widerborstige Bubenhaar gefahren. Mir dagegen war es irgendwie so unbehaglich um die Brust. 

Am frühen Mittag eben dieses zweiten Schultages nach meiner Rückkehr aus dem Odenwalde hatte ich nämlich kurzentschlossen meinen nagelneuen Zwanzigmarkschein genommen und bin zu einer Firma „Trumpp & Oßwald, Lederwaren und Schuhmachereibedarf” gegangen. Obwohl ich kaum über den großen Arbeits- und Verkaufstisch voller Leder, eine enorme hölzerne Platte auf zwei Böcken, schauen konnte, kaufte ich mir alles, was man zum Schuhemachen braucht: Dreibein und Leisten, Kneife und Raspel, den besonderen Hammer mit dem runden Kopfende auf der einen und der keilförmigen Finne auf der anderen Seite und Holznägel, Zierrädchen und Poliereisen, Wachs und Lederappretur schwarz und braun. 

Firmeninhaber waren zwei ältere Herren, die ich in ihrem damals noch üblichen Havelocks und den dazugehörenden schwarzpolierten Stöcken mit Elfenbeinkrücken heute noch lebhaft vor Augen habe. Ganze neunzehn Mark und fünfzig Pfennige machte seinerzeit die Rechnung für all das schöne Werkzeug. 

Als ich auf den neuen Zwanzigmarkschein die fünfzig Pfennige herausbekommen hatte und das inzwischen zusammengerichtete Paket aufnehmen wollte, wehrten die beiden Herren einstimmig besorgt und entschieden ab: „Das kannst du doch unmöglich selbst nach Hause tragen! Das ist ja viel zu schwer für dich!” So meinten sie beide und weiter: „Man wird das Paket natürlich baldigst zustellen! 

Verständlicherweise gingen die beiden Männer auf Sicherheit, denn woher der kleine Knirps einen Zwanzigmarkschein haben könnte, ging ihnen so ohne weiteres nicht ein, jedenfalls hatten sie sich darüber sicherlich ihre eigenen Gedanken gemacht. 

Ich hatte aber die Absicht gehabt, das neue Werkzeug erst einmal in den Keller einzuschleusen und dort zu deponieren. Ich hatte also den zweiten Kellerschlüssel umsonst mitgebracht! 

*

Am nächsten Mittag kam ich voll dunkler Ahnungen, aber völlig arglos dreinschauend vom Unterricht heim. Mein Vater, als Hauptlehrer an derselben Schule, die ich besuchen musste, tätig, war schon von jeher schneller zu Hause als ich, weil wir, meine Schulkameraden und ich, für gewöhnlich auf dem Heimwege noch eine gute Weile herumalberten. 

Du liebe, liebe Zeit, da war aber etwas los! Da war die befürchtete Bescherung vollkommener, als ich mir vorgestellt hatte: Auf unserem guten alten Tafelklavier lag, das Packpapier eilig und achtlos aufgerissen, das ganze schöne neue Schuhmacherwerkzeug herum. Davor stand krebsrot im Gesicht und völlig fassungslos mein ungläubig staunender Vater. Meiner ansichtig, kam es sofort hochdeutsch – ein untrügliches Zeichen allerhöchster Erregung und grenzenlosester Verärgerung barsch aus seinem Munde: 

„Otto, komm einmal her! Was ist denn das da?“

„Schusterwerkzeug, Vater!” 

„Kerl, das sehe ich auch! Was soll denn das? Wo hast du denn das her?” 

„Das habe ich für 19,50 Mark bei , Trumpp & Oßwald’ in der Spitalstraße gekauft!” 

„So, gekauft hast du das in der Spitalstraße bei ,Trumpp & Oßwald’ ? Und mit was für Geld, he? Los, los, los!” ,Mit den zwanzig Mark der Tante Therese, Vater!” 

O weh, da hatte aber jetzt der Blitz eingeschlagen, der grellste Blitz, den es je gegeben hat. Mein sonst so gutmütiger Vater heulte aufs tiefste entsetzt auf: 

„Mein Gott, der Bub ist übergeschnappt! Er ist verrückt geworden! — Da kriegt der Kerl von seiner Tante einen Zwanzigmarkschein! Und nun: Weg ist der, weg, weg, weg, einfach weg! Für Schuuuhmacherwerkzeug!” 

Er lief so blaurot an, dass ich fürchtete, er würde ersticken. 

Was dann erfolgte, war eine interne Familienangelegenheit, über die man ganz einfach nicht sprechen sollte! 

Aber ich glaube, mein Vater war damals so tief erschrocken, dass er felsenfest überzeugt war, bei mir würde tatsächlich etwas nimmer stimmen! 

*

Wenn mein Vater, was bekanntermaßen leider selten genug vorgekommen ist, mit dem gutmütigen tauben Dorfschustermeister „Daab” zusammentraf, dann hatten sie beide immer ein interessantes gemeinsames Gesprächsthema, zwar etwas mühselig, aber immerhin: Die Bienenzucht! Der Daab lobte den Odenwälder Heidehonig von der Erika, die es damals noch reichlicher an Waldrändern und an Straßenhängen gab, mein Vater dagegen den nahezu schwarzen harzigen Honig der Schwarwälder Schirmtannen. Überhaupt lag die Imkerei wohl in unserer Familie, denn dem elfJahre älteren Bruder meines Vaters war sie zur erfüllenden Lebensaufgabe und zum außerordentlich erfolgreichen Berufe geworden. 

Wenn im beginnenden Hochsommer die Sonne so richtig vom Himmel brannte, bis in die noch schönen warmen Septembertage hinein, pflegte mein Vater jedes Jahr mit seinen Bienenvölkern ins liebliche Gernsbach zu wandern und auf einem ruhigen Fleckchen im grünen Tal der hurtig dahineilenden Murg aufzustellen. So fuhren also der Vater, die Mutter und meine Schwester am Ende der für mich so ereignisreichen und schließlich geradezu dramatischen Woche in aller Herrgottsfrühe des Samstagmorgens dorthin, um noch einmal den begehrten, dem unglaublichen Fleiß der einzelnen Bienlein zu verdankenden, tiefschwarzgrünen letzten Tannenhonig diesen zu entführen und zu schleudern. Das Haus zu hüten und die samstäglichen Besorgungen zu erledigen, blieb indessen mir anvertraut! 

Am Anfang der ganzen Schuhmacheridee stand ja das Mitleid mit meiner guten Mutter, weil sie wegen den heillosen Löchern in den durchgelaufenen Schuhsohlen bei Regen mit nassen Füßen herumgehen musste. Dem gründlich abzuhelfen, sollte ja gerade die Überraschung dienen. Das war aber nunmehr schändlich daneben gegangen; augenblicklich kam es sowieso nicht mehr in Frage, weil die liebe Mutter mitsamt den durchlöcherten Schuhsohlen auf dem Wege ins schöne Murgtal war. 

*

„Den Buckel hast du voll gekriegt!” sagte ich zu mir. „Nun ist ja doch alles egal! Jetzt mache ich zuallererst einmal meine eigenen kaputten Schuhe!” 

Flugs setzte ich mich am Mittag hin und tat es auch: fein säuberlich die genau passend zugeschnittenen Sohlen ins Wasser gelegt; des schönen glatten Anliegens an den Rahmen wegen und um zu verhindern, dass das Leder später beim Nasswerden quellen würde, anschließend auf einem Klötzchen an der einen Schnittfläche des leichtgehöhlten Tannenstammes kräftig gehämmert; zwei Reihen Holznägel gesetzt, die neuaufgenagelte Sohle dann erst mit der Raspel vorgearbeitet und dann mit dem Glasscherben geglättet; die Zierrillen um den oben leicht vorstehenden Sohlenrahmen heiß neu gerädelt und die wieder geradegerichteten Absätze mit dem schwarzen Polierwachs und dem angewärmten Poliereisen sozusagen gebügelt; um zuguterletzt das ganze Paar Schuhe, wie es bei den Schuhmachern damals so üblich war, mittels eines kleinen Schwämmchens am gezwirbelten Drahtende mit der glänzendschwarzen Lederappretur zu bestreichen, dass sie für einige Tage das Aussehen von Lackschuhen hatten. 

Das fertige Werk stellte ich dann neugierig in der Küche auf die blankgeschmirgelte Herdplatte hin. 

Als die müden und hungrigen „Murgtäler” das Honigschleudern ist übrigens bei der brütenden Hitze unter dem schützenden Bienenschleier und den derben Handschuhen allemal eine recht anstrengende Betätigung — mit ihrer großen Kanne Schwarzwälder Tannenhonig wieder glücklich am späten Abend nach Hause gekommen waren, schlief ich rundum zufrieden schon längst den Schlaf des Gerechten; denn als Ministrant musste ich ja am frühen Sonntagmorgen aus den weichen Federn, wenn sie auch noch so wohlig warm waren. 

Als ich nach dem feierlichen Hochamte dann gegen Mittag zum sonntäglichen Essen nach Hause kam, stand mein guter Vater wieder da, dieses Mal nicht vor dem altehrwürdigen Tafelklavier, sondern vor der blitzblank gescheuerten Herdplatte. Und wieder rief er: Otto, komm doch einmal her!” Wiederum sprach er im feinsten Hochdeutsch: „Sag mal, da standen gestern nacht die lackierten Schuhe, die du da anhast, auf dem Herde herum. Was soll denn das nun wieder? Woher sind denn die?” „Ha no, Vater, das sind doch meine Schuhe. Die hab ich mir gestern mittag gesohlt!” 

Da wurde er wieder energischer: , Ja, was heißt denn hier: gesohlt, gesohlt? So ganz einfach: Die hab ich mir gesohlt?! Und, he, wo hast du denn das Leder her dazu? Und wieso willst du denn plötzlich aus heiterem Himmel Schuhe sohlen können, sag mal?” 

„Ha, das Leder hab ich vom Onkel Valtin bekommen. Ha, und gelernt hab ich das doch beim Zugucken vom Daab, wenn ich in den Ferien an den Regentagen ihm aus Langeweile beim Schuhemachen geholfen habe!” 

Da tat sich nun zunächst überhaupt nichts mehr. Mein Vater trat nervös von einem Bein auf das andere. Dabei schaute er mich unverhohlen an, wie wenn er in seinem ganzen Leben noch nie etwas mit mir zu tun gehabt hätte. Dann wechselte er plötzlich vom feinen Hochdeutsch in die vertraute heimatliche Sprechweise über. Sichtlich nachdenklich geworden, fragte er sodann ein wenig unsicher und neugierig gespannt, dabei beinahe leise: 

,Ja, sag mal, Otto, könntest du denn eigentlich meine Schuhe auch machen?” 

,Aber natürlich kann ich das, Vater!” sagte ich da fröhlich: „Deine Schuhe und der Mutter ihre könnte ich machen!” 

Da ging der Vater dann ganz unvermittelt wieder aufs akzentuierte Hochdeutsch über und meinte, genau wie seinerzeit der Onkel Valtin: „Sag mal, Otto, hast du noch einen besonderen Wunsch? Fehlt dir vielleicht noch etwas ?“

„Ja!” sagte ich wie damals. „Ich hab noch einen Wunsch! Mir fehlt noch ein Leisten. Wenn ich den noch hätte, könnte ich auch der Gretel ihre Schuhe machen. Das Leder reicht für alle.” Da gab sich mein Vater entschlossen einen Ruck, griff kurzerhand ins Portemonnaie, zückte ein Fünfmarkstück und gab es mir: „Reicht das dazu?” fragte er. Das war natürlich nur eine rhetorische Frage, um seine sichtlich immer deutlicher aufkommende Verlegenheit zu überspielen. 

Das war alles. Ja, weiter kam dann nichts mehr. Anschließend war sowieso Zeit für das sonntägliche Kriegsmittagessen ä la Spätsommer 1917. 

Freilich reichte das Geld, es reichte noch zu viel mehr, als nur zu einem einfachen hölzernen Leisten für Damenschuhe. Aber schon Immer, wenn ich irgendwann einmal von dieser Schuhmachergeschichte erzählt habe und auch jetzt noch, während ich sie niederschreibe, gab und gibt es mir so einen ganz kleinen, winzigen Stich ins Herze hinein: Nie hat nämlich mein Vater ein Wort darüber verloren, dass er mich – zugegeben, über meine ursprünglichen Absichten völlig ahnungslos und im jähen väterlichen Entsetzen ernsthaft davon überzeugt, dass ich nicht mehr ganz bei Trost, ja vielleicht sogar total übergeschnappt sei, immerhin aber letztlich doch eben grundlos — kurzerhand verprügelt hatte. Noch nicht ein Wort einmal, als auch er freudestrahlend und hochbeglückt seine frischgesohlten, mit der schwarzen Lederappretur lackierten Schuhe entgegennehmen konnte. Hätte ich es aber geyagt, womöglich etwas dawider zu sagen, dann wäre zum ersten Ärgernis prompt und mit tödlicher Sicherheit auch noch ein zweites hinzugekommen, etwa so:

Ach, kleiner Otto! Na ja, das weißt du doch wohl selber. Verdient hast du es dieses Mal nicht. Aber, o je, sonst doch allemal immer!” 

Voilà! So waren sie eben anno dazumal, die Väter. Sich entschuldigen für etwas? I wo! 

Das gab es nicht! 

Und wahrscheinlich, nein, mit großer Bestimmtheit, hatten sie auch recht damit, dass sie so waren, wie sie eben nun einmal gewesen sind! 

*

In der Folgezeit hat die gute, als erste von dem kleinen Buben so bedauerte Mutter natürlich ihre Schuhe auch gerichtet bekommen; auch das liebe Schwesterlein und — als mans nicht mehr verbergen konnte, dass wir alle, die ganze Familie, mit heilen Schuhen herumgelaufen sind — auch die Leute im Hause, die mir noch im letzten Jahre des unseligen Ersten Weltkrieges und in der etwas längeren schlechten Zeit danach ein irgendwo ergattertes Stück Leder bringen konnten. 

Für mich selber ist es bis zum heutigen Tage so geblieben. Das Schusterwerkzeug, eigenmächtig von dem kleinen zehnjährigen, aber trotzdem bewährten Erntehelfer und Freizeit-Schustergehilfen mit dem Zwanzigmarkschein der Gödel, der guten Tante Therese, gekauft, ist immer noch da. Und kurz bevor ich angefangen habe, dies niederzuschreiben, waren gerade wieder einmal ein Paar Absätze an meinen Schuhen, die es bitter nötig hatten, hergerichtet worden.  

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